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Echte Bauchgefühle

Kummerkasten, Sporttrainerin, Geburtshelferin: Jessica Hüttl-Czichos hat viele Aufgaben. Doch für die meisten ihrer Patientinnen ist sie einfach eine gute Freundin, wahrscheinlich die beste, zumindest für eine Weile. Seit zwanzig Jahren schon arbeitet die 42-Jährige als Hebamme. Freiberuflich betreut sie Jahr für Jahr mindestens 70 Frauen und ihre Babys in der Schwangerschaft und den ersten Wochen nach der Geburt. Wie vielen Kindern sie als Klinikhebamme im Krankenhaus auf die Welt geholfen hat, kann sie schon nicht mehr zählen. „Trotzdem ist der Moment, in dem eine Familie entsteht, immer wieder toll“, sagt sie.

Erst ist da nur ein diffuses Rauschen, dann plötzlich ein lautes Galoppieren. Wild und schnell, so wie es sein muss. „Alles ganz regelmäßig“, sagt Jessica und die blonde Frau vor ihr auf der Liege entspannt sich merklich. Für ihre Patientin Stefanie Völlings ist es das erste Kind und auch jetzt noch, in der 22. Schwangerschaftswoche, „absolut irre“, die Herztöne des Babys zu hören. Die Hebamme misst den Bauchumfang, tastet nach der Gebärmutter, checkt den Blutdruck der Mutter. Regelmäßige Vorsorgeuntersuchungen nimmt auch der Gynäkologe vor.

„Es mag sein, dass es auch andere tolle Jobs gibt. Aber für mich ist das einfch der schönste Job der Welt.”

Jessica Hüttl-Czichos

Schwangere können aber stattdessen oder zusätzlich noch zur Hebamme gehen und über das sprechen, was im hektischen Praxisalltag der Ärzte oft untergeht: Ist Akupunktur in der Schwangerschaft sinnvoll? Welche Geburtsklinik passt zu mir? Und wo kann ich schöne Babybauchfotos machen lassen? „Mir fallen hier immer viel mehr Fragen ein als beim Arzt. Jessica nimmt sich viel Zeit und hat immer gute Tipps“, lobt Stefanie Völlings. „Als ich Covid hatte, hat sie mich so gut beruhigt. Das ist eine ganz andere Beziehung, ein ganz anderer Kontakt als zum Frauenarzt.“

Längst sind die beiden Frauen von der Untersuchungsliege zur gemütlichen Sitzgruppe gewechselt. An der lindgrünen Wand hängen Baby- und Bauchbilder, die Pinnwand ist vollgestopft mit Dankeskarten. Seit zwölf Jahren führt Jessica Hüttl-Czichos schon eine eigene Praxis, nebenbei arbeitet sie festangestellt im Kreißsaal der Sana Kliniken Duisburg, nimmt als Praxisanleiterin auch Studentinnen der Hebammenwissenschaft mit zu ihren Wochenbettbesuchen. „Es mag sein, dass es auch andere tolle Jobs gibt“, sagt sie und lacht. „Aber für mich ist das einfach der schönste Job der Welt.“

Hebamme Jessica Hüttl-Czichos (rechts) im Gespräch mit Stefanie Völlings.

Soziale Medien verunsichern

Mit ihrer Hebammenpraxis „Bauchgeflüster“ nutzt die Duisburgerin seit zwei Jahren die Räumlichkeiten im DRK-Haus in Friemersheim, hier finden auch die Rückbildungskurse statt, die sie leitet. Langsam füllt sich der Raum, der mit dem alten Parkett und dem großen Spiegel an der Wand an eine Tanzschule erinnert, mit Babyschalen und Frauen in Sportkleidung. Ein kleiner Ghettoblaster spielt Musik, auf Yogamatten werden Bauchmuskeln und Beckenboden trainiert. Neben Geburtsvorbereitungskursen gehört die Rückbildung zum Hebammen-Standardrepertoire, die Kosten übernehmen die Krankenkassen.

Jessica Hüttl-Czichos macht die Übungen vor, bis die ersten Babys langsam unruhig werden. Dann trägt und schuckelt sie mal das eine, mal das andere Neugeborene herum. Manche Kinder sind zufrieden damit, einfach nur die Umgebung zu beobachten. „Jedes Kind ist anders, eine Gebrauchsanweisung gibt es nicht“, weiß die Hebamme, selbst zweifache Mutter. Aber viele Frauen ließen sich inzwischen verunsichern, auch durch Social Media. „Ich sage immer, versuch doch mal, die anderen auszublenden, nicht zu vergleichen, sondern dein eigenes Kind zu verstehen, auf dein Bauchgefühl zu hören.“ Eine, der das ganz gut gelingt, ist Alina Bützer. Ihr Sohn Thilo kam am 20. September zur Welt. Ganz entspannt steht die 30-Jährige zwischen allerlei Willkommensgeschenken im Kinderzimmer. Thilo, ihr erstes Kind,schläft friedlich in ihren Armen – und die Mama strahlt übers ganze Gesicht. „Aber die ersten Wochen sind nicht immer nur schön, sondern auch anstrengend“, weiß ihre Hebamme, die zu einem der letzten Wochenbettbesuche gekommen ist.

Auch im Rückbildungskurs verrät Jessica Hüttl-Czichos ihre Hebammentricks.
Alina Bützer ist froh, dass sie eine Hebamme gefunden haben.

Ängste nehmen

Wie aufs Stichwort brüllt Thilo los. Zu den Aufgaben der Hebamme gehört es, das Neugeborene regelmäßig zu wiegen, am besten nackt. Das mag Thilo gar nicht. Er schreit so lange, bis Jessica Hüttl-Czichos mit beiden Händen seine Arme fasst und sanft an seinen Körper drückt – nur einer von Jessicas Hebammentricks. Sie zeigt den jungen Eltern, die sie zur Nachsorge besucht, wie man das Baby anzieht und badet, wie man am besten die Findernägel schneidet oder das Tragetuch benutzt. Bei den Müttern überprüft sie Geburtsverletzungen und wie sich die Gebärmutter zurückgebildet hat. „Mit dem Kind bin ich meist in zehn Minuten durch, da sieht man auf einen Blick, dass alles in Ordnung ist“, sagt die Fachfrau. „Gespräche, den Eltern Ängste nehmen, das ist der viel größere Anteil.“ Stefanie Völlings und Alina Bützer sind froh, dass sie eine Hebamme gefunden haben, denn das ist keine Selbstverständlichkeit. Über die Jahre sind die Versicherungsbeiträge der Geburtshelferinnen so stark gestiegen, dass viele freiberufliche Hebammen aufgaben. Aus Angst, nach der Entbindung ohne Betreuung dazustehen, melden sich die meisten Schwangeren inzwischen „quasi mit dem positiven Schwangerschaftstest“, sagt Jessica. Problematisch sei das, wenn für werdende Mütter mit einem hohen Unterstützungsbedarf wie Bewohnerinnen von Frauenhäusern oder Teenagerinnen dann keine Kapazitäten mehr frei sind.

Für manche Mütter breche bei jeder Kleinigkeit eine Welt zusammen, andere litten vielleicht schon vor der Schwangerschaft unter Angststörungen oder Depressionen. „Ich bin keine Psychologin, aber wir leisten ganz viel psychologische Arbeit. Da kommt man auch selbst an seine Grenzen“, gibt Jessica Hüttl- Czichos zu. „Wichtig ist, dass die Frauen nicht alleine sind. Sie können mich jederzeit anrufen oder anschreiben.“ Das Vertrauensverhältnis, das sich so in der Schwangerschaft aufbaut und nicht selten bis zum zweiten oder dritten Kind fortsetzt, schweißt zusammen. „Da entwickelt sich ein fast freundschaftliches Verhältnis. Für mich ist es toll zu sehen, wie die Kinder heranwachsen, wie die Eltern beim zweiten Kind lockerer werden“, sagt Jessica. „Und auch manche Familien erinnern sich noch an mich, wenn ihre Kinder längst Teenager sind.“

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