Zum Artikel
Zum Gewinnspiel
Zur Artikelinfo
Zur Mediengalerie
Diesen Artikel teilen

Die Kohlenwagen waren unsere Wecker

Welche Erinnerungen haben Sie an das Hamborn Ihrer Kindheit?

Der Stadtteil war in den Sechzigern wesentlich belebter als heutzutage. Um den Altmarkt herum hat sich ein Geschäft an das nächste gereiht. Bäcker, Metzger, Schneider – das ganze Programm. Überall waren Fußballplätze. Man traf sich in den Kneipen, in den Geschäften, auf dem Markt und an der Bude. Von all dem ist heute fast nichts mehr da. Wir hatten unter anderem sogar ein fünfstöckiges Kaufhaus in Hamborn. Eine Etage bestand nur aus der Spielwarenabteilung. Das war für uns Kinder natürlich ein Erlebnis, wenn wir uns in der Adventszeit Ideen für den Wunschzettel sammeln durften.

Und das Spielzeug durften Sie dann in Ihrem Zimmer aufbauen?

Ich bin in einer Familie mit fünf Kindern aufgewachsen. Da hatte nicht jeder sein eigenes Zimmer. Wohnraum war zu dieser Zeit knapp. Ich kann mich noch daran erinnern, dass in unserer Nachbarschaft Kriegsruinen auf dem Werksgelände standen. Die Menschen haben damals sehr beengt gelebt. Ich musste mir ein Zimmer mit meinen Geschwistern teilen. Wir Kinder brauchten übrigens keinen Wecker.

Warum das?

Wir sind im Schatten des Förderturms von Schacht 1/6 der Zeche Friedrich Thyssen aufgewachsen. Dort fuhr niemand mehr ein, aber es herrschte noch reger Ver- und Umladebetrieb: Sobald die Transportbänder losliefen, krachte die Kohle in die Waggons. Da wussten wir immer: Jetzt ist Viertel nach sechs. Es ist Zeit aufzustehen. Die Kohleverladung war unser Wecker. Ich höre das Geräusch heute noch.

Hatten Sie einen speziellen Berufswunsch?

Ich wollte erst Lokomotivführer werden. Später war die Ornithologie mein Steckenpferd und ich konnte mir vorstellen, beruflich in dieser Richtung etwas zu machen. Ein Teil meiner Familie stammte aus der Eifel. Wenn ich dort war, habe ich viele Vögel beobachtet. Das war ein herrliches Hobby. Letztendlich habe ich mich aber für ein Theologiestudium entschieden.

Sie haben zu diesem Zweck Ihre Heimatstadt verlassen. Wie haben Sie den Strukturwandel in Duisburg aus der Ferne erlebt?

Ich war ja nie wirklich ganz weg. Auch wenn ich an anderen Orten studiert habe und zur Ordensausbildung als Novize in Österreich war, ist die Verbindung nach Hamborn zu keiner Zeit abgerissen. Die Stahlkrise aus den 1980er-Jahren mit dem Arbeitskampf in Rheinhausen ist mir noch präsent. Da stand die ganze Stadt unter Schock, weil dadurch Tausende Arbeitsplätze und überhaupt alles in Gefahr geriet. Wir haben die Folgen in der Familie auch zu spüren bekommen. Meine Tante und meine Mutter hatten eine Buchhandlung. Weil in der Bevölkerung Unsicherheit herrschte, blieb die Kundschaft aus. Im Jahr der Rheinhausen- Krise ist das komplette Weihnachtsgeschäft ausgeblieben. Alle waren in Sorge, nicht nur die Stahlarbeiter.

Das ist nun mehr als 30 Jahre her.

Aber die Folgen sind weiterhin spürbar. Auch bei uns im Norden der Stadt sind viele Jobs in der Schwerindustrie und allen anderen Branchen weggebrochen. Dadurch sind die Arbeitslosenzahlen angestiegen und durch politische Fehlentscheidungen Leerstände in den Einkaufsstraßen entstanden, ganze Stadtteile verkommen und verödet. Aber es gibt auch Anlass zur Hoffnung.

Wie sieht diese aus?

Es entsteht auch Neues: Ich denke da etwa an die vielen Zusiedler, Muslime, Christen verschiedenster Kirchen und Juden, die hier im Stadtteil präsent sind. Wir, die Kirchengemeinden und Mitbrüder unseres Klosters stehen im Austausch mit vielen von ihnen und wir stellen auch unsere Kirchen für Gottesdienste zur Verfügung. Wenn wir es richtig machen, dann kann diese Vielfalt Duisburg guttun. Unser neues Musikprojekt der Abteigemeinde wird dazu beitragen: Einander besser verstehen und miteinander musizieren. Ebenso positiv sind die gewaltigen Investitionen von Helios: Das St. Johannes-Klinikum mit dem beeindruckenden Neubau ist und bleibt eine Top-Adresse und stellt viele Arbeitsplätze. Der Erhalt der kirchlichen Schulen in einer gemeinsamen Anstrengung von Stadt und Bistum leistet ebenso einen wertvollen Beitrag in der Bildungslandschaft. Selbst das Brauchtum erfährt Neuaufbrüche: Man denke an die Eröffnung der Karnevalssession mit 600 Teilnehmern, 18 Gruppen und vier Spielmannszügen.

Sie als alter Hamborner haben doch mit Sicherheit einen Lieblingsort in Ihrem Stadtteil.

Da gibt es mehrere. Ich verbringe gerne Zeit bei einem Spaziergang über unseren wunderschönen Abtei-Friedhof. Dort kann ich sehr gut nachdenken, mich erinnern und Vögel beobachten. Ein weiterer Lieblingsort ist nur wenige Meter von meinem Elternhaus entfernt.

Erzählen Sie mehr.

An der Hufstraße liegt die „Raststätte Liesen“. Das ist die letzte traditionelle Ruhrgebietskneipe in Hamborn. Sie befindet sich nun seit fast 120 Jahren in Familienhand. Die Wirtin Ulrike Liesen, ihre und meine Geschwister, wir sind dort aufgewachsen und haben da als Kinder gespielt. Wenn ich mal zu Besuch bin, kommen viele Erinnerungen in mir hoch. Mit dem Jugendchor haben wir in der Kneipe fröhliche Runden erlebt. An einem solchen Abend ist dort auch meine Entscheidung gefallen, zum Studium nach Freiburg zu gehen, die erste große Weichenstellung in meinem Leben.

Wie kam es dazu?

Ich hatte dem Chorleiter Pater Andreas davon erzählt, dass ich zum Studium nach München gehen möchte. In der Stadt wohnten schon einige Freunde von mir. Der Chorleiter riet mir dazu, doch mal wohin zu gehen, wo ich noch niemanden kenne. Er schlug Freiburg vor und ich habe mich für Freiburg entschieden. Es war eine tolle Zeit und ich war dort einfach sehr gerne. Das gilt auch für die vielen anderen Orte meines Lebens. So langsam singe ich aber auch mit den Höhnern: „Die schönste Stroß op minger Reis, die führt na Hus!“ Hier ist meine Heimat. Trotz aller Probleme, die es gibt: Hier gehöre ich hin, hier bin ich zuhause, hier fühle ich mich wohl.

Beitrag empfehlen

Themenbezogene Beiträge

Weitere Beiträge