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Retten auf der ganzen Welt

Wenn das Handy von Matthias Steff den Empfang einer SMS anzeigt, kann das zwei Dinge bedeuten. Vielleicht hat er eine harmlose, ganz alltägliche Nachricht erhal­ten, etwa die Frage eines Freundes, ob er Lust auf einen Kinobesuch hat. Oder Matth­ias Steff bekommt die Info, dass es irgend­wo auf der Welt eine schlimme Katastrophe gegeben hat: ein Erdbeben, einen Tsunami, ein Unglück, bei dem Menschen in Gefahr sind. Dann weiß der 31-Jährige, dass er schon bald in einem Flugzeug sitzen wird. ihm bleiben sechs bis acht Stunden, um al­les vorzubereiten. länger brauchen die Mit­glieder der Hilfsorganisation I.S.A.R. nicht, um einsatzbereit zu sein. I.S.A.R. – das ist die Abkürzung des Namens der Duisbur­ger Hilfsorganisation „international Se­arch and rescue“. Suchen und retten auf der ganzen Welt. Das beschreibt ziemlich genau, was sich die Mitglieder der Organi­sation zur Aufgabe gemacht haben. 2003 entstand in Duisburger Feuerwehrkreisen der Wunsch, eine Rettungshundestaffel zu gründen. Eine kleine Gruppe sollte es sein, flexibel und schnell einsetzbar. Eine Hand­voll Leute tat sich zusammen. Es war die Gründungsstunde von I.S.A.R. Noch sollte niemand ahnen, dass schon im Folgejahr die erste große Bewährungsprobe für die noch junge Organisation anstehen sollte. Doch nachdem am zweiten Weihnachtstag 2004 eine Reihe verheerender Tsunamis die Küsten Asiens ins Chaos stürzten, rückten die I.S.A.R.-Mitglieder erstmals aus. Hun­deführer, Bergungsexperten, Sanitäter und Notärzte flogen nach Thailand, um Sofort­hilfe zu leisten.

150 Ehrenamtliche engagieren sich

Heute sind rund 150 Ehrenamtliche bei I.S.A.R. aktiv. Matthias Steff aus Duis­burg-Fahrn ist einer von ihnen. 2006, er hatte gerade seine Lehre als Tischler be­endet, unterschrieb er bei der Hilfsorgani­sation seine Beitrittserklärung. Sein erster Auslandseinsatz brachte ihn 2009 nach In­donesien. „ich hatte in den Nachrichten von einem Erdbeben gehört“, blickt Matthias Steff zurück „und es war abzusehen, dass viele Menschen von der Katastrophe be­troffen waren.“ Er wusste, dass sein Handy schon bald den Eingang einer SMS anzei­gen würde. Und so kam es. „Alarm“, stand da plötzlich im Display, „Bitte bereiten Sie sich vor.“ Und Matthias Steff wusste, was er zu tun hatte. Er sprach mit seiner Lebens­gefährtin Katja Verfürth, die beiden hat­ten sich nur wenige Monate zuvor bei einer I.S.A.R.-Katastrophenübung kennengelernt. Sie nahmen Kontakt auf mit der Einsatzlei­tung. Und nach dem kurzen Gespräch wuss­ten sie, dass sie schon in wenigen Stunden das Gelernte in der Praxis anwenden würden.

Müsliriegel ins Gepäck

Jedes i I.S.A.R.-Mitglied hat stets einen fer­tig gepackten Notfall-rucksack in reich-weite. Darin stecken Kleidung, Moskitonetz, Schlafsack, GPS, Batterien und alles, was man noch so braucht, um in einer Krisen­region zurechtzukommen. „Kurz vor der Abreise stecke ich noch schnell zwei Pa­ckungen Müsliriegel und Trinkwasser in die Tasche – und es kann losgehen“, sagt Steff. Dann heißt es, keine Zeit zu ver­lieren: den Chef informieren, dass man spontan seinen Resturlaub nehmen muss. Zum Flughafen fahren. Unterwegs noch schnell vom Doktor durchchecken lassen. Gepäck aufgeben, ticket bekommen. in den Flieger steigen. Verdutzten Touristen auf den Nebensitzen erklären, dass man nicht wie sie in den Urlaub fliegt, sondern Katastrophenhilfe leisten wird. Nicht wis­sen, was einen erwartet. Von Duisburg in die Welt. Eine Reise ins Ungewisse — Ad­renalin, Stress, Anspannung, wenig Schlaf.

Wenn I.S.A.R. - Mitglieder ausrücken, ist die Lage ernst. 2004 waren sie nach dem Tsunami in Thailand, 2005 fuhren sie no­cheinmal hin und leisteten Aufbauhilfe. Kurz darauf flogen sie nach Pakistan, wo es ein schweres Erdbeben gegeben hatte. 2007 waren sie nach einem Erdbeben in Peru, 2009 in Indonesien. 2010 halfen sie in Haiti, 2011 und 2012 kümmerten sie sich um Flüchtlinge in Libyen und Ostaf­rika. 2013 waren sie auf den Philippinen, nachdem Taifun „Haiyan“ weite Teile des Landes verwüstet hatte. Zuletzt waren sie mit 52 Helfern in Nepal, um Verletzte nach den schweren Erdbeben im vergangenen April aus den Trümmern zu befreien. Bei der Suche nach Verschütteten kommt moder­ne Technik zum Einsatz. Die I.S.A.R.-Leute nutzen nach einem Erdbeben empfindliche Lauschgeräte, um Klopfzeichen zu verneh­men von Menschen, die unter Trümmern begraben liegen. Sie nutzen Spezialkame­ras, die sie in winzige Hohlräume schie­ben können, und sie schicken Drohnen in die Luft, um sich mit live-Bildern aus der Vogelperspektive einen Überblick über die Lage zu verschaffen.

Ausgebildete Rettungshunde

Das wirkungsvollste Hilfsmittel bei der Su­che nach Menschen in Not kommt jedoch ganz ohne Technik aus. Es hat vier Beine, Fell und eine sensible Nase: Hunde. Speziell ausgebildete Rettungshunde, um genau zu sein. Um diese intelligenten Vierbeiner zu erleben, muss man Duisburg verlassen und rund 30 Kilometer in Richtung Niederrhein fahren. Nach Hünxe. Zu einem 80.000 Qua­dratmeter großen ehemaligen Kasernen­gelände. Zum Bundesverband Rettungs­hunde, der eng mit I.S.A.R. zusammenarbei­tet. Zu Ingeborg Wortmann (59) und ihrem fünfjährigen Harzer Fuchs, der auf den Na­men Lasse hört.

Lasse ist ein Vollprofi

Hütehund Lasse ist ein Vollprofi, bestens trainiert. Er klettert steile Leitern hinauf, steigt souverän über wacklige, mitunter spitze und scharfkantige Trümmer, er traut sich hinein in enge, dunkle Gänge. Und im offenen Gelände kann lasse innerhalb von 20 Minuten 30.000-Quadratmeter-Flächen auf der Suche nach Vermissten abschnup­pern – sogar nach mehreren tagen kann lasse mit seiner tüchtigen Hundenase noch die Spur eines Menschen verfolgen. lasse hat bereits Menschen aufgespürt, die unter Schutt begraben lagen, und er hat verwirrte Senioren gefunden, die sich im Wald ver­laufen hatten. Nur auf seinen ersten Aus­landseinsatz wartet er noch. anders sein Frauchen. Zwei Mal schon stand auf dem Handy-Display von Ingeborg Wortmann: „Alarm. Bitte bereiten Sie sich vor.“ Sie war mit I.S.A.R. auf den Philippinen und in Nepal. „ich war beide Male bei den Lochkriechern im Einsatz“, sagt sie. Das heißt: Die aus­gebildete Krankenschwester ist nach Erd­beben in staubige Schächte gestiegen, um verschüttete Menschen mit Schmerzmit­teln und Flüssigkeit zu versorgen, bevor sie von den „Bergern“ ausgegraben und zurück ans Tageslicht geholt wurden. immer dabei: die Sorge, dass es ein Nachbeben geben könnte, dass die Trümmer wieder in Bewe­gung geraten. Das Risiko soll bei allen Ein­sätzen gering bleiben. „Eigenschutz hat für uns oberste Priorität“, sagt die Hunde-Ex­pertin Ingeborg Wortmann. Seit mehr als zehn Jahren beschäftigt sie sich intensiv mit Hunden. Sogar Polizeihunde werden bei ihr ausgebildet. Für das Training der Suche nach Verschütteten ist auf dem Gelände des Bundesverbands Rettungshunde e. V. eigens ein „Trümmerfeld“ aufgebaut wor­den. Dort sieht es aus, als hätte es kürzlich eine heftige Gasexplosion gegeben: Gebäu­deruinen mit Gerümpel, Schränken, Kisten, Gestein, Durchbrüchen, Leitern, tunneln, Rohren, ein großes Durcheinander. Bis zu vier Mal im Monat übt Ingeborg Wortmann hier mit ihrem Hund lasse den Ernstfall. Zwölf Mal war er bereits im Einsatz – in der Regel, weil deutsche Behörden um Hilfe bei der Suche nach Vermissten gebeten hat­ten. „Wenn wir einen Menschen finden und er noch lebt, dann hat sich das ganze Trai­ning gelohnt“, sagt sie. Jedes  I.S.A.R.-Team ist beim Auslandseinsatz so ausgerüstet, dass es im Krisengebiet notfalls bis zu zehn Tage ohne fremde Hilfe zurechtkommen kann. Oft mangelt es vor Ort an funktionie­renden Strukturen: an sauberem Trinkwas­ser,  Strom und Essensnachschub.

Gütesiegel der Vereinten Nationen

Dass die Organisation aber auch unter widrigen Bedingungen hochprofessionell arbeitet, ist in der Helferszene bekannt und sogar von offizieller Stelle zertifiziert: Das entsprechende Gütesiegel kommt von den Vereinten Nationen, und das hat in Deutschland Seltenheitswert. I.S.A.R.  ist damit auf Augenhöhe mit dem technischen Hilfswerk THW. Doch passieren kann immer etwas. Bei Übungen und in Seminaren wer­den die I.S.A.R.-Leute darauf vorbereitet. ihnen wird sogar erklärt, wie sie ein wasser­dichtes Testament verfassen. „Wir wissen: Es kann sein, dass wir von einem Einsatz nicht zurückkommen“, sagt Katja Verfürth, die inzwischen zwei Auslandsaufenthalte hinter sich hat. Sie ist Krankenschwes­ter, möchte Ärztin werden. Derzeit stu­diert sie Medizin an der Universität Duis­burg-Essen. im Einsatz versorgt sie Ver­letzte, schient Brüche, gibt Spritzen, näht Wunden. „Mir ist klar, dass ich damit nicht die Welt retten werde, aber ich kann nach einer Katastrophe in sehr kurzer Zeit sehr vielen Menschen helfen. Und die Dankbar­keit, die ich dafür vor Ort erfahre – sei es ein lächeln, eine freundliche Geste oder ein Händeschütteln –, ist Lohn für die ganzen Mühen.“

Menschenleben retten

Was es bedeutet, ein Leben zu retten, hat auch ihr Freund Matthias Steff schon er­lebt. „im Einsatz sehen wir Helfer zwar nicht nur Not und Elend, wir haben auch Zeit zum Quatschen und um miteinander zu lachen. Dafür muss Zeit sein, man muss abschal­ten können.“ Doch Matthias Steff hat be­reits Menschen aus eingestürzten Gebäu­den gegraben, manchmal war er dann völlig erschöpft. Maximal zwölf Stunden soll die Schicht eines Retters im Einsatz dauern. aber kurz vor dem Ziel gibt kein Trümmer­helfer auf – es wird weitergemacht, bis der Verschüttete frei ist. Dann: „Glück, Freude, Erleichterung und Stolz darüber, dass man erfolgreich angewendet hat, was man jah­relang trainiert hat.“

Kilometer 6877

Das ist die Entfernung auf dem Luftweg von Duisburg nach Kathmandu in Nepal. Nach dem schweren Erdbeben sind Ende April 52 Helfer von I.S.A.R. in die Katastrophenregion im Hi-malaya geflogen. Das Team hatte acht Tonnen Ausrüstung dabei, darunter auch einen kom-pletten behandlungsplatz, um Verletzte medi-zinisch versorgen zu können.

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