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Gerhard, Bananen und ein Çay

Startpunkt ist der Mercator-Brunnen am Burgplatz vor dem Duisburger Rathaus. Sofort taucht Klaus Brüggenwerth ein in Geschichten zu Gerhard Mercator, erzählt vom Bau des Rathauses und erklärt die archäologischen Funde neben dem Rat­haus. Das alles geschieht unterhaltsam, gut dosiert und niemals aufdringlich. Dass Rhein und Ruhr vor 1.000 Jahren hier mal direkt unterhalb des Burgplatzes zusammenflossen, ist eines der Aha-Erlebnisse, die auf dieser interessanten Tour hängen bleiben. Seit 2011 macht Klaus Brüggen­werth das jetzt schon. Die Idee dazu kam dem 67-Jährigen durch die Essener Kulturlinie 107, die anlässlich der Kulturhauptstadt 2010 ins Leben gerufen wurde. „Das können wir in Duisburg genauso gut, wenn nicht besser“, erklärt er. Was den beson­deren Reiz an der Duisburger Kulturlinie 901 ausmacht, ist die Streckenführung. Sie verbindet die drei vollkommen unterschiedlichen Orte Rathaus, Ruhrort und Marxloh. Die Menschen, die Klaus Brüggenwerth begleiten, kommen hauptsächlich aus Duisburg oder vom Niederrhein. Der Ingenieur für Gleisbau im Ruhestand ist ein Multitalent: Tourguide, Erzähler, Unterhalter und Künstler. Bei seinen Touren ist ihm das Laufen und Erlaufen der Orte ganz wichtig: „Die Leute kommen beim Gehen ins Gespräch, erzählen sich was, erinnern sich, tauschen sich aus, schauen genauer hin und entdecken Details.“

Unter der Erde wird es bunt

Unterhalb des Duisburger Rathauses sind die Wandflächen des U-Bahnhofs mit künstlerisch gestalteten, farbig emaillierten Blechen verkleidet. Der Duisburger Künstler Prof. Manfred Vogel hat sie ge­schaffen. Sie zeigen Sehenswürdigkeiten und Motive der Stadtgeschichte in den Farben Rot, Blau und Gelb. Auch die Farben sprechen für die Stadt: Rot und Gelb stehen für Feuer, Glut und Stahl, Blau für das Wasser — also für Schifffahrt und Handel. Ein Lichtstrahl auf den Gleisen und der deutlich spürbare Luftzug kündigen das Eintreffen der Linie 901 an. „DU-Obermarxloh Schleife“ steht auf der Zielanzeige und nicht etwa „Kulturlinie 901“. Die Teilnehmer der Stadt­führung fahren nicht mit einer Sonderfahrt der Duisburger Verkehrsgesellschaft, sondern suchen sich ihren Platz zwischen den anderen „normalen“ Fahrgästen. Jetzt verlässt die 901 den Untergrund. Vorbei am Schwanentor geht es über die Ruhr nach Ruhrort.

Tausend Augen schauen auf dich

An der Haltestelle Tausendfensterhaus steigen wir aus. Entlang der langen Fens­terfassade, der das Haus seinen Namen verdankt, geht es zum Eingang. Davor stehen einige meist rauchende Patienten einer Augenklinik, die an ihren Augenklappen und -verbänden zu erkennen sind. Die von zwei Löwenskulpturen eingerahmten schweren Eingangstore geben den Weg frei zu einer völlig unerwarteten Raumerfahrung. Ein lichtdurchflutetes, unheimlich hohes und mit Pflanzen begrüntes Atrium. In dessen Mitte findet sich ein in den Boden eingelassenes Mosaik. Eine Absperrung schützt das Mosaik vor dem Betreten. Spontan zieht Klaus Brüggenwerth das Booklet einer CD von Werner Muth aus seinem „Kulturbeutel“ und beginnt daraus vorzulesen. Es ist ein Text über das Tausendfensterhaus und die Linie 901. Das passt. Es geht um Kind­heitserinnerungen an eine Straßenbahnfahrt vom Duisburger Norden in den Süden, und darin erscheinen die Fenster wie tau­send große Augen, die dich anstarren. Auch das Buch, das Brüggenwerth dann aus der Tasche zieht, macht Lust auf mehr. Es ist ein historischer Kriminalroman, der im alten Ruhrort des Jahres 1854 spielt. Die Autorin ist gebürtige Duisburgerin und heißt Silvia Kaffke, der Buchtitel lautet „Das rote Licht des Mondes“.

Von hier geht es weiter zum Vinckeplatz. Dort steht eine von fünf Ruhrorter Videostelen, die aussehen wie hochbeinige Hafenpoller. Mit Blick in Richtung Tausendfensterhaus schaut man auf historische Filmaufnahmen, die den direkten Vergleich zur Gegenwart ermöglichen. Diese Stele sieht aber eher wie ein grünes Männchen aus dem All aus, denn die umtriebige Ruhrorter Strickguerilla hat ihr eine einzigartige Strickummantelung verpasst. Nach einigen kurzen Informationen zum Vinckeplatz und der Videostele geht es zu Fuß weiter durch Ruhrort. Vorbei am Haniel- Stammhaus über die denkmalgeschützte pittoreske Fabrikstraße bis an die Ecke Bergiusstraße. Klaus Brüggenwerth erzählt dabei von der besonderen Bauweise der Maximiliankirche und zeigt uns die Kunstgalerie ruhrKUNSTort. Er lenkt an jeder Ecke mit kurzweiligen und ortskundigen Kom­mentaren den Blick auf Details, die einem sonst nicht aufgefallen wären. Hier an der Ecke, wo die Fabrikstraße auf die Bergiusstraße trifft, muss sich die Linie 901 ganz eng an einem Eckhaus vorbei um die Kur­ve schlängeln. Im letzten Jahr kam es hier zu einem Engpass: „Ein Baugerüst an dem Eckhaus war so ausladend, dass die Straßenbahn nicht mehr vorbeikam“, erinnert sich Brüggenwerth.

Häuser mit Bananen und Flossenwesen

Als es in die nächste Straße geht, fällt es allen sofort ins Auge, das gelb leuchtende Haus Nr. 28. Wir stehen in der Ruhrorter Karlstraße vor dem berühmten Bananenhaus. Das hat der Kölner Künstler Thomas Baumgärtel 2001 in Zusammenarbeit mit dem Ruhrorter Malermeister Dieter Siegel-Pieper gestaltet. Klaus Brüggenwerth klopft kurz an die Schaufensterscheibe des Nachbarhauses, und schon steht Die­ter Siegel-Pieper neben uns auf der Straße und erzählt, dass er den für seine gespray­ten Bananen bekannten Künstler auf der Art Basel kennengelernt hat. Der 75-jähri­ge Malermeister, der ein Faible für kräftige Farben hat, ist der Chef des Ruhrorter Malerbetriebs Pieper. Das Traditionsunternehmen ist im 117. Jahr und in der dritten Generation in Ruhrort ansässig. Mit oran­gefarbenem Schal und grünem Pullover zeigt uns der begeisterte Fassadengestalter und Kunstsammler Siegel-Pieper einen weiteren Coup: die Flossis. Die klettern an der Seitenfassade des neu gedämmten Fir­mensitzes links neben dem Bananenhaus herum. Diese farbigen Kunstharz-Skulp­turen der bekannten Professorin, Künst­lerin und Bühnenbildnerin Rosalie hatte Siegel-Pieper im Düsseldorfer Medienha­fen entdeckt. Im Oktober 1998 hatten die Flossis ihren ersten großen Auftritt in Düs­seldorf. Scheinbar direkt dem Rhein ent­stiegen, kletterten die sympathischen Flos­senwesen die Fassade des NRW-Forums empor. „Die brauchen wir auch in Ruhrort, denn wir sind hier auch am Rhein“, erinnert sich Siegel-Pieper an seinen ersten Impuls, die Flossis in die Karlstraße zu holen. Auch die Künstlerin fand die Idee gut und so verschönern nun zehn farbenfrohe Flos­senwesen die Fassade. Damit auch ganz normale Passanten erfahren können, was für Wesen sich da an der Fassade tummeln und wieso es am anderen Haus so viele Bananen gibt, hat der farbenfrohe Ruhrorter zwei Infotafeln angebracht.

Auf einen Çay ins Pera

Die nächste 901 bringt uns von Ruhrort über Laar und Beeck nach Marxloh. Auf diesem Streckenabschnitt ziehen nacheinander alle klassischen Ruhrpottklischees in den Panoramafenstern der Straßenbahn vorbei: graue und verlassene Mehrfamilien­häuser, die Köpi-Brauerei und die rauchenden Schlote der ThyssenKrupp-Kokerei. Das ist dann schon ein krasser Gegensatz zur eben noch erlebten fast dörflichen Idylle in Ruhrort.

Dann, an der ersten Haltestelle in Marxloh, taucht eine andere Welt auf: Die Schilder der Geschäfte sind auf einmal alle in Türkisch, teilweise auch zweisprachig. An der Haltestelle stehen überwiegend Menschen eindeutig türkischer Herkunft, und dann nähern wir uns dem quirligen Zentrum von „Klein-Istanbul“, der Kreuzung Pollmann. „Nach Marxloh zieht es besonders viele, die früher einmal dort gearbeitet haben und die seit 30 Jahren nicht mehr dort gewesen sind“, erzählt Klaus Brüggenwerth, als wir die 901 an der Haltestelle „Marxloh Pollmann“ verlassen und in eine faszinierende Geschäftswelt eintauchen, die mittlerweile zum Markenzeichen von Marxloh geworden ist: die „Duisburger Brautmeile“. Hier gibt es alles rund um die Hochzeit. Über 50 Brautmodeläden, die vom Design durchaus mit den Shoppingtempeln bekannter Modelabels konkurrieren können, eine große Anzahl an Friseuren und Hochzeitsfotografen. Und das Geschäft boomt weiter und zieht immer mehr Heiratswillige aus ganz Europa nach Marxloh. Das bestätigt auch Mehmet Demiray. Der 48-Jährige ist der Chef des türkischen Restaurants Pera direkt an der Kreuzung Pollmann. Hier legt Klaus Brüggenwerth mit seiner Gruppe im­mer eine Pause ein, bei einem Glas türki­schem Tee dem Çay, und Gebäck. Demiray kommt aus einer Bergarbeiter-Familie, die mittlerweile schon in der vierten Genera­tion in Deutschland lebt. Er selbst lebt seit seinem zwölften Lebensjahr in Marxloh. „Wichtig ist, dass wir uns langsam über Ruhrort mit der Straßenbahn annähern, und wenn wir da sind, haben wir hier im Restaurant Pera die Möglichkeit, wirklich anzukommen“, erklärt Brüggenwerth. „Mich fasziniert das Interesse der Deutschen an der türkischen Küche und an der türkischen Kultur“, sagt Demiray, der sich zu uns an den Tisch gesetzt hat. Wirtschaftlich sieht er Marxloh auf einem positiven Weg, und er erhofft sich auch mehr Unterstützung durch die Stadt beispielsweise durch mehr Parkplätze für die zahlreichen Einkaufstouristen. Er findet es schade, dass viele Duisburger sich oft nicht trauen, nach Mar­xloh zu fahren, um einfach dort mal mit der Familie essen zu gehen. Diese Ängste hilft Klaus Brüggenwerth mit seinen Besuchen in Marxloh abzubauen. „Was Herr Brüggenwerth da macht, finde ich super. Gerade jetzt, wo viele Leute Angst vor dem Islam haben, ist es wichtig, gemeinsam an Vorschlägen zur Annäherung zu arbeiten“, ist Demiray überzeugt.

Von der Mode zur Moschee

Das Brautmodengeschäft Melisam auf der Weseler Straße ist eines der über 50 Geschäfte auf der europaweit bekannten Brautmodenmeile. Melisa Küccük, 17-jäh­rige Tochter der Inhaberfamilie und Na­mensgeberin für das Geschäft, erklärt Klaus Brüggenwerth Schnitte und Stoffqualitäten der bis zu 2.500 Euro teuren Brautkleider, die exklusiv in der Türkei gefertigt werden. Über die Weseler Straße vorbei an all den Mode-, Schmuck- und anderen Läden geht es über den Skulpturenweg zur Merkez-Moschee, einem beeindruckenden Kuppelbau. „Von den Socken sind die meisten, wenn es in die Moschee reingeht. Dass man sich da einfach auf den Teppich legen und Fotos machen kann“, sagt Brüggenwerth. Wir werden herzlich und freundlich begrüßt, als wir in der Merkez-Moschee eintreffen. Gerade ist das Gebet beendet und die Män­ner unterschiedlichen Alters stehen auf der Schwelle vom roten flauschig weichen Teppichboden zum Steinboden und ziehen ihre Schuhe wieder an. Die Beschuhten, die an uns vorbei Richtung Ausgang gehen, grüßen uns mit einem freundlichen „Hallo“ oder „Guten Tag“. Auch wir ziehen unsere Schuhe aus und gehen auf Socken in den hellen und farbenfrohen Gebetsraum, lassen die Atmosphäre dieses offenen Gottes­hauses auf uns wirken. Hier endet die Ent­deckungsreise mit der Kulturlinie 901.

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