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Die pure Lust am Lesen

Christian Märtin stellt einen schweren Karton auf den Boden. Er greift ins Innere und nimmt sich einen Stapel Bücher. Dann stempelt Märtin den Vermerk „unverkäuflich“ auf die Ränder. „So wollen wir vermeiden, dass die Bücher in den Handel gelangen“, sagt der 63-Jährige. Für Märtin ist Literatur kein Geschäftsmodell. Im Gegenteil. Er ist froh, wenn ein Besucher im öffentlichen Bücherschrank in der Duisburger Königsgalerie einen spannenden Roman entdeckt und mit nach Hause nimmt.

Im Urlaub entdeckt

Bücher kostenlos, anonym und formlos zum Tausch oder zur Mitnahme anzubieten – das ist das Konzept dahinter. Es stammt ursprünglich aus der österreichischen Stadt Graz. Ein Unternehmer aus Ruhrort entdeckte dann während seines Nordsee- Urlaubs einen Bücherschrank. Nach der Rückkehr warb er bei der Bürgerstiftung Duisburg dafür, einen Bücherschrank in seiner Stadt aufzustellen.

Mehr als 2500 Bücher stehen in den Regalen.

„Das ist mein zweites Wohnzimmer.“

Christian Märtin

„Wir freuen uns immer darüber, wenn wir Ideen gespendet bekommen, und haben den Vorschlag gerne mitumgesetzt“, erzählt Jörg Löbe, Vorstandsvorsitzender der gemeinnützigen Organisation. Der Ruhrorter Unternehmer baute ein Metallregal und stellte es 2012 im Gemeindehaus des Hafenstadtteils auf. Duisburg hatte somit seinen ersten öffentlichen Bücherschrank.

Mittlerweile gibt es 34 Standorte im ganzen Stadtgebiet. Die meisten befinden sich in ausrangierten Telefonzellen. In der Königsgalerie hat die Bürgerstiftung ein leerstehendes Ladenlokal angemietet. „Das ist mein zweites Wohnzimmer“, sagt Christian Märtin. Er ist einer von insgesamt 70 Buchpaten, die sich ehrenamtlich für die Bürgerstiftung engagieren.

Jörg Löbe von der Bürgerstiftung begrüßt Ideenspenden.

Ordnung muss sein

Märtin sorgt für Ordnung in seinem zweiten Wohnzimmer. Er steht vor den Regalen und sortiert die Bücher ein. Fachliteratur für Gesundheit, englischsprachige Romane oder Kinderbücher – jedes kommt an seinen Platz. „Und die Science-Fiction-Fans wissen, wo sie die Bestseller finden“, erklärt Märtin und lacht.

Sein eigenes Leben hätte auch Potenzial für ein Buch. Es ist eine Geschichte mit tragischen Zügen, die aber ein Happy End hat. 2001 starb Märtins Ehefrau. Ihr Tod warf ihn aus der Bahn, er betrank sich schon mittags. Die Alkoholsucht kostete Märtin seinen Arbeitsplatz als Altenpfleger, später verlor er seine Wohnung in Marl. Er zog nach Duisburg und lebte zeitweise im Obdachlosenheim. „Ich war am Ende und hatte nicht einmal mehr einen Personalausweis“, erzählt Märtin. Auch dank seiner neuen Frau kämpfte er sich zurück ins Leben. 2013 erlitt Märtin einen Rückfall. Er ließ sich daraufhin in eine Entzugsklinik einliefern und entgiften. „Seitdem habe ich keinen Tropfen Alkohol mehr getrunken“, sagt Märtin.

Christian Märtin steht vor den Regalen und sortiert Bücher ein.

Sein Körper war aber nicht mehr geschaffen für die Altenpflege. Märtin musste Frührente beantragen. Was ihm fehlte, war eine Aufgabe. Er erfuhr von dem Buchpaten-Projekt der Bürgerstiftung – und stellte sich vor. Seit 2016 übt Märtin sein Ehrenamt nun in der Königsgalerie aus. „Er ist für uns ein absoluter Glücksfall“, betont Bürgerstiftungsvorstand Jörg Löbe.

Leidenschaftlicher Buchexperte

Christian Märtin entdeckte die pure Lust am Lesen und entwickelte sich zu einem Literaturexperten. Wer zu ihm kommt, erhält auch stets eine Kritik zu den Büchern. Als Krimiautoren empfiehlt er Frank Schätzing oder John Grisham. Henning Mankell schneidet bei ihm nicht so gut ab. „Bei dem passiert auf den ersten hundert Seiten doch kaum etwas“, sagt Märtin über den verstorbenen Schriftsteller aus Schweden. Der Buchpate greift zu Hause auch zu den Werken von Goethe und Schiller. Das Lieblingsbuch des gläubigen Christen ist aber die Bibel.

Christian Märtin mit Kaffee und einem guten Buch.

Die Liste der Bücher, die er noch lesen möchte, ist lang. „Ich habe mir vorgenommen, hundert Jahre alt zu werden“, sagt der Frührentner. „Also bekomme ich noch einiges im Leben gelesen.“ Er hat den Stapel Bücher nun einsortiert. Es ist Zeit für eine Kaffeepause. Am Sonnenwall setzt Märtin sich in den Außenbereich einer Bäckerei. Er bestellt einen Kaffee, zündet sich ein Zigarillo an und fischt ein Buch aus seiner Tasche. Als Pausenlektüre dient der Roman „Der Pathologe“ des US-amerikanischen Autors Jonathan Kellerman. Märtin blättert zur Stelle, an der er am Morgen stehengeblieben ist, und genießt das Lesen.

Bücherschränke in Duisburg

Eine umfassende Übersicht mit allen Bücherschränken in Duisburg liefert die Bürgerstiftung allen interessierten Lesefreunden unter folgender Adresse: buergerstiftung-duisburg.de/portfolio/du-liest-oeffentliche-buecherschraenke


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